Predigt von Regionalbischöfin Dr. Adelheid Ruck-Schröder

Nachricht Hildesheim, 17. April 2022

Frohe und gesegnete Ostern!

Liebe Gemeinde!

Es ist dieses eine Bild, aus dem ukrainischen Mariupol, das geht mir an die Nieren: Fünf Männer keuchen im Laufschritt durch ein Trümmerfeld der Geburtsklinik. Sie tragen eine schwere Last. Auf der schwankenden Trage liegt eine hochschwangere Frau. Schwerverletzt. Sie hält ihre Hand an ihren Bauch. Und dann ist da die Decke, auf der die Frau liegt; die sticht mir ins Auge: Ein fröhliches Rot mit Punkten. Ein Erdbeermotiv. Wir haben zuhause so eine ähnliche Decke für Picknicks im Grünen. Wahrscheinlich ist die Decke in höchster Eile gegriffen worden. Mitten in den finsteren Trümmern leuchtet sie bizarr bunt. Verzweifelt erinnert sie an Bilder aus einem normalen und unbeschwerten Leben.

Höchste Gefahr schwebt über der schwankenden Trage mit der hochschwangeren Frau und ihrer Erdbeerdecke inmitten der Trümmer.

Die Welt ist aus den Fugen, wenn Geburtskliniken verwüstet werden und Frauen und Kinder im Chaos und evakuiert werden müssen. Diese irre Szene aus Mariupol, die Frau auf der schwankenden Trage über dem Chaos, die Gefahr, die über dieser Szene schwebt, all das ruft in mir eine ganz andere Szene auf, eine Urszene aus der biblischen Tradition. In der geht es ebenfalls ums Chaos, um Tiefe und Finsternis. Es ist die Szene von der Erschaffung der Welt, die allersten Zeilen der Bibel:

Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer. Finsternis lag über der Tiefe. Und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser.

Gerade jetzt in dieser Passionszeit 2022, in der die für uns scheinbar sichere Weltordnung aus den Fugen geraten ist, hilft es mir, an diesen biblischen Ausgangspunkt von allem zu gehen, was über Gott und die Welt zu sagen ist. Es ist bemerkenswert: Ausgerechnet an dieser prominenten Stelle in der Bibel, im Auftakt zu allem, was die Bibel erzählt, wird das Chaos aufgerufen. Die Erde war „wüst und leer.“ So haben wir es vorhin in der Lesung gehört. Im Hebräischen steht Tohuwabohu. Martin Buber übersetzt „Irrsal und Wirrsal“: „Die Erde war Irrsal und Wirrsal“. Und weiter: „Finsternis lag über der Tiefe“. Das sind Worte und Bilder von Existenzbedrohung. Nur zitternd eingehegt durch den Geist Gottes: „Der Geist Gottes schwebte über der Tiefe.“ Man kann das Schweben übersetzen mit Zittern: Gottes Geist zitterte über der Tiefe. Die Gelehrten Israels, die diese Zeilen verfasst haben, waren selbst Vertriebene im Exil. Als Vertriebene haben sie große Fragen in ihre Geschichte unter Zittern und Zagen gestellt und sie in die Erzählung vom Anfang der Schöpfung hineinverwoben: Wozu sind wir auf der Welt, die paradiesisch sein kann, manchmal aber voller Irrsal und Wirrsal? Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Worum geht es Gott ursprünglich mit seinem Himmel und mit seiner Erde, mit uns, auch angesichts von Abgründen und existentieller Finsternis?

Zurückblicken an den Anfang, heißt auf diese Fragen zu hören. Sie heute zu stellen.

Die Welt war ja auch vor dem Ukrainekrieg nicht in Ordnung. Das zerstörte Homs in Syrien, Kindersoldaten in Zentralafrika, Flüchtlinge im Lager 2 auf Lesbos.

Wir haben das alles gewusst. Jeder Krieg zerstört Ordnung und Grundfesten von Menschlichkeit. Aber der Überfall Putins auf die Ukraine geschieht vor unserer Haustür. Und jetzt brechen unsere vermeintlichen Sicherheiten weg. Das macht mich nachdenklich. Wir werden uns viel zu verzeihen haben. Das gilt nicht nur im Blick auf unser Miteinander während der Pandemie. Das gilt auch für unsere Ignoranz.

Regionalbischöfin Dr. Adelheid Ruck-Schröder

Wir haben das alles gewusst. Jeder Krieg zerstört Ordnung und Grundfesten von Menschlichkeit. Aber der Überfall Putins auf die Ukraine geschieht vor unserer Haustür. Und jetzt brechen unsere vermeintlichen Sicherheiten weg. Das macht mich nachdenklich. Wir werden uns viel zu verzeihen haben. Das gilt nicht nur im Blick auf unser Miteinander während der Pandemie. Das gilt auch für unsere Ignoranz.

Nach 70 Jahren Krieg kommen jetzt längst überwunden geglaubte Ängste und Traumata wieder hoch. Viele Ältere können abends keine Nachrichten mehr sehen können. Die Bilder des Krieges bringen sie um den Nachschlaf. Und meine Generation, erst recht unsere Kinder, die ja schon junge Erwachsene sind, und die Schüler und Schülerinnen im Josephinum und Andreanum, wir alle sehen uns erstmals selbst mit der Bedrohung von Krieg konfrontiert. Das setzt Kräfte frei, ruft aber auch Fragen auf: Von wo kommt Zuversicht?

Gott überlässt die Erde in ihrem Irrsal und Wirrsal nicht sich selbst. Gottes Geist zitterte angesichts von Chas und Tohuwabohu über der Tiefe. Das ist eine der ersten Aussagen über Gott. Gott schwebt zitternd mit seinem Geist über der Tiefe. Und er erschafft im Angesicht der Finsternis und der Trümmer das Licht. Er unterscheidet zwischen Licht und Finsternis:

Gott sprach: Es werde Licht!

Gott sah das Licht: dass es gut war.

Und Gott schied zwischen dem Licht und der Finsternis.

Und Gott nannte das Licht Tag, die Finsternis aber nannte er Nacht.“

Gott unterscheidet. Die Kunst der göttlichen Unterscheidung: Sie hilft aufzuräumen mit dem Tohuwabohu unseres Lebens. Nüchtern zu bleiben. Unterscheidungen und Differenzierungen helfen, nüchtern zu bleiben. Seit dem Überfall auf die Ukraine am 24.2.2022 ist es entscheidend, den Aggressor eindeutig zu benennen und dabei zu unterscheiden: wer überfällt, und wer wird überfallen. Nicht pauschal „die Russen“ zu verdammen, aber den Aggressor Putin zu identifizieren. Nicht „die orthodoxe Kirche“ im Ganzen zu verurteilen, aber den Moskauer Patriarchen Kyrill als gotteslästerlichen Unterstützer dieses verheerenden Krieges zu identifizieren. Zwei Personen, die Finsternis über das Licht der Wahrheit legen wollen und dabei Irrsal und Wirrsal in der Ukraine anrichten.

Unterscheidungen trösten nicht. Sie verschaffen aber Klarheit. Sie helfen, im Kopf und in inmitten von fake news aufzuräumen, Dinge klar zu benennen und dadurch auch einzugrenzen. „Gott nannte die Finsternis Nacht.“ Gott gibt der Finsternis einen Namen und grenzt sie damit ein, nämlich auf die auf die Nachtzeit ein. Finsternis ist da. Sie gehört zu unserer Existenz. Aber sie darf nicht unbegrenzt herrschen. Sie hat einen Anfang und ein Ende. Keine existentielle Finsternis darf unendlich sein.  

Das ist auch die Botschaft der Passionszeit, der Geschichte von Jesu Leiden. Finsternis spielt in der Leidensgeschichte Jesu von Nazareth eine Rolle. „Eine Finsternis kam über das Land, als Jesus am Kreuz hing.“ (Markus 16,33). Aber die Finsternis hat keinen Bestand. Früh am Morgen, als die Sonne aufging, im ersten Licht, das an das Licht der Schöpfung erinnert, sind die Frauen zum Grab geeilt und haben ihren toten Freund dort gesucht. Finsternis darf nicht unendlich sein. Sie wird schon im Akt der Schöpfung eingegrenzt. Sie wird auch im Leiden und Sterben Jesu begrenzt.

Die hochschwangere Frau auf der schwankenden Trage mit ihrer Erdbeerdecke hat es nicht geschafft. Ihr Kind ist noch im Mutterleib gestorben. Die Ärzte konnten weder Mutter noch Kind retten. Wir sind noch in der Passionszeit.

Ich kann nicht anders, als den Tod dieser Frau auf der schwankenden Trage, den Tod dieser Frau, die doch guter Hoffnung war, in die Geschichte vom Irrsal und Wirrsal am Anfang der Schöpfung hineinzulesen, in die Geschichte des Chaos und des schwankenden, ja zitternden Geist Gottes. Ich kann nicht anders, als ihre Geschichte auch als Teil der Passionsgeschichte Jesu von Nazareth zu sehen, der am Kreuz gestorben ist. Sie ist Teil der Protestgeschichte gegen den sinnlosen und gewaltsamen Tod. 

Protest braucht Zuversicht. Protest braucht Licht am Ende des Tunnels. Protest braucht einen guten, kraftgebenden Geist.

Das ist die Hoffnung.

Und das bezeugen die großen Erzählungen unseres Glaubens:  von der Schöpfung der Welt bis zur Passion und Auferweckung Jesu von Nazareth. Diese großen Erzählungen des christlichen Glaubens korrespondieren einander. Sie rufen den Geist Gottes angesichts der Tiefe auf. Wenn auch zitternd. Sie rufen Licht am Ende des Tunnels auf. Daraus schöpfe ich Hoffnung. 

„Und die Erde war Irrsal und Wirrsal. Und Finsternis war über der Tiefe. Und der Geist Gottes schwebte über dem Wasser. Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht. Und Gott sah, dass das Licht gut war … . Da ward es Abend. Da ward es Morgen. Der erste Tag.“

„Und Maria von Magdala und Maria, die Mutter des Jakobus, und Salome kauften wohlriechende Öle, um hinzugehen und den toten Jesus zu salben. Und die Frauen kamen zum Grab am ersten Tag der Woche, sehr früh, als die Sonne aufging und sie sahen, dass der Stein weggewälzt war.“

Amen.

Regionalbischöfin Dr. Adelheid Ruck-Schröder

Regionalbischöfin Dr. Adelheid Ruck-Schröder

Predigt der Regionalbischöfin

Regionalbischöfin Dr. Adelheid Ruck-Schröder predigte vor Kurzem im Hildesheimer Dom.