Liebe Gemeinde!
Es ist dieses eine Bild, aus dem ukrainischen Mariupol, das geht mir an die Nieren: Fünf Männer keuchen im Laufschritt durch ein Trümmerfeld der Geburtsklinik. Sie tragen eine schwere Last. Auf der schwankenden Trage liegt eine hochschwangere Frau. Schwerverletzt. Sie hält ihre Hand an ihren Bauch. Und dann ist da die Decke, auf der die Frau liegt; die sticht mir ins Auge: Ein fröhliches Rot mit Punkten. Ein Erdbeermotiv. Wir haben zuhause so eine ähnliche Decke für Picknicks im Grünen. Wahrscheinlich ist die Decke in höchster Eile gegriffen worden. Mitten in den finsteren Trümmern leuchtet sie bizarr bunt. Verzweifelt erinnert sie an Bilder aus einem normalen und unbeschwerten Leben.
Höchste Gefahr schwebt über der schwankenden Trage mit der hochschwangeren Frau und ihrer Erdbeerdecke inmitten der Trümmer.
Die Welt ist aus den Fugen, wenn Geburtskliniken verwüstet werden und Frauen und Kinder im Chaos und evakuiert werden müssen. Diese irre Szene aus Mariupol, die Frau auf der schwankenden Trage über dem Chaos, die Gefahr, die über dieser Szene schwebt, all das ruft in mir eine ganz andere Szene auf, eine Urszene aus der biblischen Tradition. In der geht es ebenfalls ums Chaos, um Tiefe und Finsternis. Es ist die Szene von der Erschaffung der Welt, die allersten Zeilen der Bibel:
Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer. Finsternis lag über der Tiefe. Und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser.
Gerade jetzt in dieser Passionszeit 2022, in der die für uns scheinbar sichere Weltordnung aus den Fugen geraten ist, hilft es mir, an diesen biblischen Ausgangspunkt von allem zu gehen, was über Gott und die Welt zu sagen ist. Es ist bemerkenswert: Ausgerechnet an dieser prominenten Stelle in der Bibel, im Auftakt zu allem, was die Bibel erzählt, wird das Chaos aufgerufen. Die Erde war „wüst und leer.“ So haben wir es vorhin in der Lesung gehört. Im Hebräischen steht Tohuwabohu. Martin Buber übersetzt „Irrsal und Wirrsal“: „Die Erde war Irrsal und Wirrsal“. Und weiter: „Finsternis lag über der Tiefe“. Das sind Worte und Bilder von Existenzbedrohung. Nur zitternd eingehegt durch den Geist Gottes: „Der Geist Gottes schwebte über der Tiefe.“ Man kann das Schweben übersetzen mit Zittern: Gottes Geist zitterte über der Tiefe. Die Gelehrten Israels, die diese Zeilen verfasst haben, waren selbst Vertriebene im Exil. Als Vertriebene haben sie große Fragen in ihre Geschichte unter Zittern und Zagen gestellt und sie in die Erzählung vom Anfang der Schöpfung hineinverwoben: Wozu sind wir auf der Welt, die paradiesisch sein kann, manchmal aber voller Irrsal und Wirrsal? Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Worum geht es Gott ursprünglich mit seinem Himmel und mit seiner Erde, mit uns, auch angesichts von Abgründen und existentieller Finsternis?
Zurückblicken an den Anfang, heißt auf diese Fragen zu hören. Sie heute zu stellen.
Die Welt war ja auch vor dem Ukrainekrieg nicht in Ordnung. Das zerstörte Homs in Syrien, Kindersoldaten in Zentralafrika, Flüchtlinge im Lager 2 auf Lesbos.