Vom Dornwald zur Rose: Weihnachtslieder aus dem Eichsfeld und dem Harz

Nachricht Harz, Eichsfeld, 24. Dezember 2025

Im Harz, in Südniedersachsen und im Eichsfeld beginnt Weihnachten seit Jahrhunderten nicht mit lauten Gesängen, sondern mit zwei Liedern, die das Licht langsam kommen lassen: „Maria durch ein Dornwald ging“ und „Es ist ein Ros entsprungen“. Beide stammen aus dieser Region oder wurden hier überliefert – und beide erzählen die Weihnachtsnacht nicht als Moment, sondern als Weg.

Es sind Lieder, die nicht laut werden. Lieder, die nicht mit Engelschören beginnen, sondern mit einem Gehen. Mit Dornen. Mit Kälte. „Maria durch ein Dornwald ging“ setzt nicht auf Glanz, sondern auf Geduld – und genau darin liegt seine eigentümliche Kraft, gerade in der Weihnachtszeit.

Weihnachten ist hier kein Moment

Seine Wurzeln reichen weit zurück, vermutlich bis ins Spätmittelalter. Lange Zeit galt das als gesichert. Der Kirchenmusiker und Lieddichter Peter Baltruweit weist jedoch darauf hin, dass es Anzeichen für ein noch höheres Alter gibt. Demnach könnten einzelne Schichten des Liedes bis ins 11. Jahrhundert zurückreichen.

Ein entscheidender Hinweis liegt in einem unscheinbaren, aber bedeutungsvollen Element, das den Ton des Liedes bis heute prägt: das Kyrie eleison – griechisch für „Herr, erbarme dich“.

Kyrie eleison und die alten Leisen

Dieses Gebet gehört zu den ältesten Elementen der christlichen Liturgie. Lieder, die diesen Ruf in sich tragen, werden als Leisen bezeichnet. Sie waren im Mittelalter weit verbreitet und lassen sich bis in die frühe Kirchenmusik des Hochmittelalters zurückdatieren. Dass „Maria durch ein Dornwald ging“ diesen Klang bewahrt hat, deutet auf ein erstaunliches Alter hin.

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Überliefert wurde das Lied im Raum des heutigen Eichsfelds, jener katholisch geprägten Region im Grenzgebiet zwischen Thüringen und Niedersachsen, die über Jahrhunderte hinweg ihre religiösen Lieder bewahrte – auch unter Druck, auch gegen äußere Einflüsse.

Das Eichsfeld als Ort der Überlieferung

Hier blieb der leise, bittende Ton erhalten, der weniger erklärt als vertraut, weniger berichtet als hofft.

Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde „Maria durch ein Dornwald ging“ neu entdeckt – und zugleich verändert. Aus ursprünglich sieben Strophen wurden drei. Der Text wurde konzentriert, verdichtet, beinahe zeitlos.

Vom Wallfahrtslied zum Weihnachtslied

In dieser Form fand das Lied zunächst als Wallfartslied, dann Eingang in die Liederbücher der Jugendwanderbewegung und wurde allmählich zu dem Weihnachtslied, als das es heute bekannt ist.

Dass das Lied gerade in dieser gekürzten Form so wirksam wurde, erklärt Baltruweit mit seinem besonderen Charakter. Es habe zu einer Generation gepasst, die wanderte, suchte, sang – und religiöse Bilder existenziell verstand. Der Dornwald wurde zum Sinnbild eines beschwerlichen Lebenswegs, Marias Gang zu einem stillen Vertrauen, das nichts beschleunigt.

Schon die erste Strophe trägt diesen Ton: kein Jubel, kein Ziel in Sicht, nur das Gehen. Darunter liegt etwas Archaisches, beinahe Liturgisches. Wer genau hinhört, spürt den Nachklang jenes alten Rufes, der seit Jahrhunderten durch Kirchen und Klöster zieht: Kyrie eleison. Das Lied spricht dieses Gebet nicht aus, aber es atmet es – in der Langsamkeit der Melodie, in der Schwere der Bilder, im Wissen darum, dass Erlösung nicht übersprungen werden kann.

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Dornwald und Rose

Mit der zweiten Strophe geschieht das Unfassbare: „Da haben die Dornen Rosen getragen.“ Kein Triumph, kein Paukenschlag – sondern Verwandlung. Ein Bild, das sich nicht logisch erklären lässt, sondern geglaubt werden will. Baltruweit spricht hier von „Theologie in poetischer Form“. Weihnachten erscheint nicht als Ereignis, sondern als Prozess. Das Harte bleibt sichtbar, doch es bleibt nicht ohne Frucht.

Oft steht „Maria durch ein Dornwald ging“ neben einem zweiten Lied aus derselben Gegend: „Es ist ein Ros entsprungen“. Auch dieses Lied wird im Harzraum und in Südniedersachsen verortet und hatte vermutlich seinen Ursprung in Pöhlde bei Herzberg am Harz; seine ältesten Fassungen stammen aus dem späten 16. Jahrhundert.

Wo dort die Rose aus der Wurzel Jesse wächst, blüht hier die Hoffnung mitten im Dornwald. Zwei Bilder, zwei Melodien – und doch dieselbe Bewegung: Das Licht zeigt sich, während die Nacht noch nicht gewichen ist.

Vom katholischen Lied zum gemeinsamen Gesang

Lange Zeit galt „Maria durch ein Dornwald ging“ als zu katholisch für evangelische Kirchen. Doch auch das hat sich verändert. „Die Zeiten der Großeltern-Generation sind schon lange vorbei“, sagt Baltruweit, „in der einige sagten: ‚So etwas Katholisches wird bei uns nicht gesungen.‘“ Dabei war Maria auch für Martin Luther eine besondere Frau – eine Glaubende, die hörte, ging und vertraute. Heute gehören beide Lieder längst zum festen Repertoire, auch in evangelischen Gemeinden der Region.

Die dritte Strophe von „Maria durch ein Dornwald ging“ nimmt alles zurück auf das Wesentliche. Kein Pathos, keine Ausschmückung. Maria trägt ein Kind unter dem Herzen. Mehr muss nicht gesagt werden. Weihnachten ereignet sich leise, fast nebenbei – wie ein Gebet, das nicht laut gesprochen werden muss, um gehört zu werden.

Vielleicht liegt darin das Geheimnis dieses Liedes. Dass es seit Jahrhunderten gesungen wird – und immer noch klingt, als würde jemand im Dunkeln gehen, dem Licht entgegen, und leise bitten.

Sprengel Hildesheim-Göttingen/ Gunnar Müller