Hameln ringt mit Bach: Johannespassion zwischen Meisterwerk und Herausforderung

Nachricht Hameln, 06. April 2025

Intensives Ringen, lange Pausen, suchende Blicke zur Kirchendecke – die Diskussionsrunde am 1. April in der gut gefüllten Marktkirche machte deutlich: Die Frage, wie mit den antijüdischen Elementen in Johann Sebastian Bachs Johannespassion umzugehen ist, lässt sich nicht leicht beantworten. Unter dem Titel „Wenn das Kreuz zum Symbol für Täter wird, verdreht das den Sinn von Kirche“ hatten sich Vertreter*innen aus Kirche, Judentum, Wissenschaft, Kultur und Musik versammelt, um gemeinsam zu suchen – nach neuen Formen, nach Wahrhaftigkeit, nach Verantwortung.

Initiiert wurde die Reihe vom Hamelner Superintendenten Dr. Stephan Vasel. Die Diskussion war Teil eines inhaltlichen Dreiklangs: Aufklärung, Diskurs und künstlerische Durchbrechung. Auf seinen Vortrag zur biblischen und musikalischen Verankerung des Antijudaismus im Johannesevangelium folgte nun die Debatte – die Aufführung selbst bildet den dritten Schritt: mit kritischen Zwischenrufen als Kommentar zum Werk.

Im Mittelpunkt steht dabei eine unbequeme Erkenntnis: Die Johannespassion ist nicht nur ein musikalisches Meisterwerk, sondern auch ein Werk mit problematischer Wirkungsgeschichte.

Spannungsfeld zwischen Musik und Botschaft

„Im Text und in der musikalischen Verarbeitung ist die Johannespassion sehr eindeutig“, machte Rabbinerin Dr. Ulrike Offenberg klar. Sie hat sich das Werk erneut angehört – und dabei das Johannesevangelium parallel gelesen. Ihr Urteil: „Es zeigt, wie tief der Antisemitismus in der westlichen Kultur verankert ist.“ Eine unkommentierte Aufführung komme für sie nicht infrage. Musik, so Offenberg, trage theologische Überzeugungen direkt in die Herzen der Menschen.

Antisemitismusbeauftragter Prof. Dr. Gerhard Wagner sprach in diesem Zusammenhang von einer „emotionalen Welt“, die durch Bachs Musik angesprochen werde. „Auch die Musik selbst ist infiziert.“ Ihre Schönheit, so Wagner, lasse sich nicht von den Aussagen trennen, die sie transportiere.

Auch Regionalbischöfin Dr. Adelheid Ruck-Schröder sieht eine problematische Zuspitzung im Werk: „Bach hat die Aussagen des Evangelisten Johannes dramatisch verdichtet. Wir müssen die Wirkungsgeschichte der Heiligen Schrift mitdenken – Pogrome und Ausschreitungen eingeschlossen.“ Angesichts aktueller Formen von Hass auf den Straßen sei das heute nötiger denn je.

Alte Musik, neue Kontexte

Nicht allein die Aussagen des Textes standen zur Diskussion, sondern auch die Frage: Wie damit umgehen? Theaterintendant Wolfgang Haendeler warnte davor, das Werk abzulehnen. Vielmehr sei es evangelischer Geist, sich der Kritik zu stellen. „Eine Aufführung mit Kommentaren ist besser, als zu sagen: Das wollen wir nicht mehr genießen.“

Eine ähnliche Perspektive vertrat Landeskirchenmusikdirektor Benjamin Dippel. Für ihn ist Bachs Passion eine Form der Verkündigung – aufwühlend für seine Zeit, vielschichtig für unsere. „In der Fassung von 1725 sind alle Protagonisten Juden. Ich habe beim Singen nie antisemitische Gefühle gehabt.“ In den Chören sei das Bewusstsein für die Problematik sehr hoch. Dippel plädiert dennoch für Neues: eine Passion unserer Zeit – singbar, multiperspektivisch, offen für Kooperationen. „Ein Musikstück ohne Dissonanz ist wie eine Suppe ohne Salz.“

Ruck-Schröder und Dippel warben gemeinsam für eine szenische Neudeutung mit Theaterschaffenden. Auch Offenberg schlug eine kreative Lösung vor: „Ich würde bei Bachs Musik bleiben – aber neue Texte schreiben.“

Aufklärung als Chance

Dass solche Ideen nötig sind, zeigt sich auch im Vergleich. Wagner verwies auf die Oberammergauer Passionsspiele, die bewusst von antisemitischen Elementen befreit wurden – ein Vorbild für behutsame Reform. Denn die Herausforderungen sind komplex. Der Kontrast zwischen musikalischer Genialität und theologischem Problem ist schwer aufzulösen – gerade, weil Bach Emotionen aufbaut, wo das Evangelium nur erzählt.

Trotzdem – oder gerade deshalb – wurde der Diskurs in Hameln gelobt. Rabbinerin Offenberg nannte es „großartig“, dass sich eine Stadt so offen mit der Problematik auseinandersetzt. „Es waren die Römer, die Jesus gekreuzigt haben – nicht die Juden.“

Auch das Publikum war eingeladen, mitzudenken. Was die Runde eint: der Wille, die Herausforderung nicht zu verdrängen, sondern kreativ zu beantworten. „Ist Bach ein Prügelknabe für unsere Sünden im 20. Jahrhundert?“, fragte Wolfgang Haendeler zugespitzt – und lieferte selbst die Antwort: „Wir haben den Holocaust gebraucht, um zu verstehen, wie tief wir den Judenhass verinnerlicht hatten.“

Text und Fotos: Harald Langguth, Kirchenkreis Hameln-Pyrmont (gek.)