"Die Aktualität des Gedenktags macht mir Angst"

Nachricht Hannover, 09. November 2023

epd-Gespräch mit Landesbischof Ralf Meister zum 9. November 2023

Landesbischof Ralf Meister hat in Israel studiert und sich dafür eingesetzt, dass die enge Verbindung zwischen Christentum und Judentum in der Verfassung der hannoverschen Landeskirche verankert ist. Zum 85. Jahrestag der Reichspogromnacht in der NS-Zeit macht sich der Leitende Bischof der Vereinigten Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands (VELKD) große Sorgen, dass Juden in Deutschland heute wieder zunehmend eingeschüchtert und bedroht werden.

Darüber sprach der Landesbischof mit Michael Grau vom Evangelischen Pressedienst (epd).

 

epd: Herr Meister, vor 85 Jahren brannten in ganz Deutschland die Synagogen. Heute werden auf den Straßen wieder judenfeindliche Parolen gebrüllt. Ist der 85. Jahrestag der Reichspogromnacht eine Mahnung für uns heute?

 

Ralf Meister: Die Aktualität des Gedenktags macht mir, ehrlich gesagt, Angst. Es sollte selbstverständlich sein, dass jüdisches Leben hier in Deutschland unbeschwert möglich ist. Das ist es aber ganz und gar nicht. Es ist unerträglich, wenn mitten in deutschen Städten antisemitische Parolen gegrölt und plakatiert werden, wenn Synagogen, jüdische Friedhöfe und Mahnmale polizeilich beschützt werden müssen, wenn jüdische Eltern Angst haben, ihre Kinder in Kitas und Schulen zu schicken.

epd: Was kann jeder Einzelne tun, um sich gegen Judenhass zu wenden?

Meister: Jeder und jede von uns hat eine besondere Verantwortung, sich in der Erinnerung an die schreckliche Geschichte der Deutschen im Umgang mit Jüdinnen und Juden für ein Miteinander aller Menschen im Geist der Nächstenliebe einzusetzen. Ob jemand gläubig ist oder nicht: Wir müssen alle mithelfen, das Land des einstigen Nazi-Terrors zu einem Land des friedlichen Miteinanders und gegenseitigen Respekts zu machen und als solches zu erhalten. Da darf es nicht beim Reden bleiben, sondern wir müssen auch ganz praktisch schauen: Wo können wir Begegnungen organisieren? Wo brauchen jüdische Menschen bei uns Unterstützung? Wie können wir wirkungsvoll widersprechen, wenn wir antisemitischen Parolen hören? Wo leisten wir vielleicht unbewusst antisemitischen Narrativen Vorschub? Und als Kirche müssen wir immer wieder klar und deutlich sagen: Antisemitismus ist Gotteslästerung.

epd: Gibt es etwas, das Ihnen aktuell Hoffnung macht?

Meister: Ich bin schon ziemlich desillusioniert, gerade auch, wenn ich die aktuellen Statistiken zu antisemitischen Straftaten sehe. Aber: Es gibt auch viele gute und wirkungsvolle Initiativen. Etwa an Schulen, wo die ganze Schulgemeinschaft gezielt, kontinuierlich und mit viel Engagement gegen Antisemitismus arbeitet. Davon brauchen wir auch an anderen Stellen mehr, und da müssen die Kirchen, aber auch staatliche Stellen und weitere Player sich stärker engagieren als bisher. Mit Blick auf Hannover können wir uns glücklich schätzen über den so engen und vertrauensvollen Austausch mit unseren jüdischen Geschwistern.

 

epd-Gespräch: Michael Grau

Pressestelle der Landeskirche Hannovers

Stellungnahme der Bischofskonferenz der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche zum 9. November 2023

Wir sind bestürzt darüber, dass zum 85. Jahrestag der Novemberpogrome Jüdinnen und Juden in Deutschland erneut durch antisemitisch motivierte  sprachliche und reale Gewalt bedroht werden. Die unheimliche Aktualität des Gedenktags veranlasst uns, eine Selbstverständlichkeit zu betonen: Jüdisches Leben muss in Deutschland unbeschwert möglich sein. Es ist unerträglich, wenn mitten in deutschen Großstädten antisemitische Parolen gegrölt und plakatiert werden, wenn Synagogen, jüdische Friedhöfe und Mahnmale polizeilich beschützt werden müssen, wenn jüdische Eltern Angst haben, ihre Kinder in Kitas und Schulen zu schicken. Die Berufung auf Martin Luther verpflichtet uns zu einer ausgeprägten Sensibilität für jeden despektierlichen Umgang mit der jüdischen Religion, ihren Gläubigen, ihren heiligen Orten und ihren Symbolen. Luthers antijudaistische Schmähungen, auf die sich auch die Nationalsozialisten in ihrem antisemitischen Furor berufen haben, stehen für uns im denkbar größten Gegensatz zu dem Glauben an den einen Gott, der sich in dem Juden Jesus offenbart hat. Wir sehen uns deshalb in besonderer Verantwortung, im Erinnern an die schreckliche Geschichte der Deutschen im Umgang mit Jüdinnen und Juden für ein Miteinander aller Menschen im Geist der Nächstenliebe zu werben – ein Gebot der Tora, das Jesus als ›höchstes Gebot‹ unterstreicht. Wir rufen alle in Deutschland Lebenden, ob gläubig oder ungläubig, dazu auf mitzuhelfen, das Land des einstigen Naziterrors zu einem Land des friedlichen Miteinanders und gegenseitigen Respekts zu machen und als solches zu erhalten. Der Tag des Gedenkens an die Novemberpogrome gehört seit 2018 zu den offiziellen Gedenktagen der Evangelischen Kirchen in Deutschland. Allen  Gemeinden, die am 9. November gottesdienstliche Formen planen, legen wir die liturgischen Texte ans Herz, die in der Perikopenordnung vorgeschlagen werden. Mit den Worten des Eingangspsalms können wir unsere Bestürzung klagend an Gott richten: »Mache dich auf, Gott, und führe deine Sache; gedenke an die Schmach, die dir täglich von den Toren widerfährt« (Psalm 74,21). Aus dem gleichen Text nehmen wir die Zuversicht, dass wir nicht ins Leere rufen: »Gott ist ja mein König von alters her, der alle Hilfe tut, die auf Erden geschieht« (12).

Landesbischof Ralf Meister (Hannover), Vorsitzender
Landesbischöfin Kristina Kühnbaum-Schmidt (Schwerin),
Stellvertretende Vorsitzende
Landesbischof Tobias Bilz (Dresden)
Regionalbischof Dr. Hans Christian Brandy (Stade)
Vizepräsident Dr. Ralph Charbonnier (Hannover)
Oberlandeskirchenrat Dr. Thilo Daniel (Dresden)
Bischöfin Kirsten Fehrs (Hamburg)
Regionalbischöfin Dr. Dorothea Greiner (Bayreuth)
Regionalbischöfin Elisabeth Hann von Weyhern (Nürnberg)
Bischof Tilman Jeremias (Greifswald)
Landesbischof Christian Kopp (München)
Landesbischof Friedrich Kramer (Magdeburg)
Landesbischof Dr. Karl-Hinrich Manzke (Bückeburg)
Landesbischof Dr. Christoph Meyns (Wolfenbüttel)
Regionalbischof Dr. Johann Schneider (Halle)
Bischöfin Nora Steen (Schleswig)