Generalkonvent in Göttinger St.-Johannis-Kirche

Nachricht Göttingen, 10. Oktober 2022

Zwischen Pazifismus und gebotener Nothilfe

Militärdekane fordern eine realistischere Friedensethik

Den Frieden denken: Rund 250 Pastorinnen und Pastoren haben sich Anfang Oktober in Göttingen zum Generalkonvent des Sprengels Hildesheim-Göttingen in einem ganz besonderen Setting getroffen: als Tischmahl in der St. Johanniskirche. Die Militärdekane Dr. Dirck Ackermann und Dr. Roger Mielke gaben mit ihren friedensethischen Vorträgen wichtige Impulse für Diskussionen: „Wenn Gewissheiten ins Wanken geraten – Konfliktordnung statt Friedensordnung? Friedensethik in der Bewährung angesichts des Krieges in der Ukraine“ – lautete die Überschrift des Generalkonvents.

Bei Generalkonventen feierte man in den vergangenen Jahre einen Gottesdienst mit Abendmahl, ging dann zu einem Versammlungsort und diskutierte dort über ein aktuelles Thema. Bereits im vergangenen Jahr wurde diese Reihenfolge, bedingt durch Corona, aufgebrochen: An vier Orten im Sprengel trafen sich jeweils Pastor*innen. Doch die Reihenfolge – Gottesdienst in einer Kirche, Diskussion in einem Saal – blieb. In diesem Jahr nun wurde an zwei aufeinanderfolgenden Tagen in der St.-Johanniskirche in Göttingen ein Agapemahl gefeiert.

Butter, Käse, Brötchen, Kaffee und Tee – ein schlichtes Mahl, aber hochaktuelle Tischreden erwartete die Teilnehmenden, die im Mittelschiff an zwei langen Tafeln saßen.

Gibt es einen gerechten Frieden? Die Vorträge von Dr. Ackermann und Dr. Mielke kreisten um die ethische, aber auch die Frage von Legalität und Legitimät, der angegriffenen Ukraine beizustehen.

Militärdekan Dr. Roger Mielke vom Zentrum Innere Führung der Bundeswehr in Koblenz, postulierte in seinem Vortrag dialektisch eine „realistische Ethik“ zwischen absolutem Pazifismus und Realpolitik. Kirche sei dabei ein wichtiger Gesprächspartner, so Dr. Mielke. Denn Kirchen seien ein „kommunikativer Prägeraum des Politischen“, zitierte Dr. Mielke den früheren Richter am Bundesverfassungsgericht Udo di Fabio.

Diese „realistische“ Ethik leitete Dr. Mielke aus einem dreifachen Realismus ab und bezog sich dabei auf Paul Watzlawick: einem pragmatischen, der die eigene Position betrachte – etwa jahrzehntelang unter einem Sicherheitsschirm der NATO gestanden zu haben, einem (außen)politischen mit Staaten als Machtmaximierer und schließlich einem anthropologischen: der Gewaltneigung menschlicher Praxis. Und dagegen der politischen Ordnung als Erhaltungs- und Kooperationsordnung.

„Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen“ – die Friedensdenkschrift der EKD (2007) gebe zwar ein Leitbild eines „gerechten Friedens“. Doch wie aktuell sind angesichts der Bilder aus der Ukraine diese Thesen? A priori verstehe sich Frieden als Prozess, etwa durch Abbau von Gewalt, Förderung der Freiheit und Förderung kultureller Vielfalt. Auch im Krieg komme es auf die Verhältnismäßigkeit der Mittel an.

„Die Gewissheiten, auf die wir lange Zeit gebaut haben, sind dahin.“

Leitender Militärdekan Dr. Dirck Ackermann

Die Geißel des Krieges, Zeitenwende, die europäische Sicherheitsarchitektur im Wanken, der Zusammenbruch der Weltordnung, Massenexekutionen, zerbombte Städte, Millionen Menschen auf der Flucht.

Drastische Bilder, die uns dieser Tage aus der Ukraine erreichen und zunehmende Unsicherheit über Geglaubtes. „Plötzlich müssen wir über Waffen reden – und tun uns entsprechend schwer damit“, sagte Dr. Dirck Ackermann in seinem Vortrag.

Ist Nothilfe für die Selbstverteidigung der Ukraine moralisch geboten? Und wenn ja – wie weit darf der Westen unterstützen, ohne gleichsam selbst Kriegspartei zu werden?

„Die Gewissheiten, auf die wir lange Zeit gebaut haben, sind dahin.“ Diese Entwicklung habe sich bereits länger angedeutet, aber die Mehrheit habe sich gescheut, neue Grundannahmen zu treffen. Auch in den Kirchen habe eine Diskussion begonnen, „ob die evangelische Friedensethik nachgeschärft werden muss“. Die EKD-Denkschrift verstehe die internationale Friedensordnung als Rechtsordnung.

„Gewaltfreie Formen des Konfliktaustrages im Vorfeld des 24. Februars wurden versucht.“ Auch habe es keine Mobilmachung seitens der Ukraine gegeben. Der Hinweis, Russlands Angriff sei ein Präventivschlag, sei „infam“. „Die Ukraine hat das Recht, sich zu verteidigen, Staaten, die die Verteidigungsbemühungen unterstützen, werden nicht zur Kriegspartei.“ Um die internationale Friedens- als Rechtsordnung wieder herzustellen, müssten auch alle Verhandlungskanäle offenbleiben. Der Angriff Russlands auf die Ukraine dürfe jedoch nicht erfolgreich sein: „Die Herrschaft des Rechts darf nicht durch das Recht des Stärkeren ersetzt werden.“

Weder Normen noch Verträge noch Diplomatie schienen derzeit zu helfen. „Krieg soll nach Gottes Wille nicht sein.“ Gerade aus dieser christlichen, friedensethischen Perspektive sei Versöhnung erste Aufgabe der weltweiten Christenheit, Friede mehr als die Abwesenheit von Krieg. Doch als ultima ratio sei die Androhung und Ausübung von Gewalt zur Durchsetzung und Wiedererstellung des Rechts erlaubt und geboten. „Unsere Aufgabe als Christen besteht darin, Menschen vor der Gewalt zu schützen.“ Insofern sei auch die Verteidigung der Ukraine nach der in der Friedensdenkschrift formulierten Ethik rechtserhaltender Gewalt.

Ähnlich wie die „realistische Friedensethik“ von Dr. Roger Mielke, fordert auch Dr. Ackermann, Leitender Militärdekan der Bundeswehr, ein Weiterdenken: „Friedensethik muss wirklichkeitsgesättigter werden.“ Selektive Wahrnehmung und friedensethische Debatten der vergangenen Jahre führten dagegen nicht weiter.

Landesbischof Ralf Meister und der Theologische Vize-Präsident Dr. Ralph Charbonnier berichteten über aktuelle Entwicklungen aus der Landeskirche, Pastor Gerhard Weber aus dem Pastor*innenausschuss. Auch viele Diakon*innen, Kirchenmusiker*innen und Ephoralsekretärinnen waren der Einladung gefolgt.

Johannis-Organist Bernd Eberhardt gestaltete die beiden Tages des Generalkonvents am Flügel und an der Orgel.

Sprengel Hildesheim-Göttingen/gmu

Kollekte für Glocke

Die Kollekte des Generalkonvents i.H.v. 790,83 Euro ist bestimmt für die Glocke im "Haus Benedikt" in Potsdam. Das "Haus Benedikt" ist ein Nachbau der Militärkapelle aus dem Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr und steht im Wald der Erinnerung. In der rund 34 Quadratmeter großen Kapelle haben auch der Altarstein aus dem Camp Marmal bei Masar-i-Sharif und weitere Stücke aus der dortigen Kapelle einen neuen Ort gefunden. Als Ort für Stille, Gedenken und Gebet soll nun auch eine Glocke installiert werden.